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AUF DEM ZAHNFLEISCH DURCH
BOLIVIEN
Wahrscheinlich hat die
Hälfte von euch lausigen Punkern mitbekommen, dass ich
Deutschland den Rücken gekehrt habe, um mein Glück
auf einem anderen Kontinent zu suchen. Keine Frage, dass der Abschied
von Freunden und Familie schmerzlich war und der ganze Umzugsstress
mitsamt der nervigen Organisation unseres glorreichen Auszugs einiges
an Nerven gekostet hat. Zudem habe ich ja auch noch mein Studium
beendet. Seltsam dass ich nicht bereits vom einem Herzinfarkt oder
einem besonders böswilligen Magengeschwür
hinweggerafft wurde. Besonders wundert mich das vor allem, wenn ich an
den entsetzlich unruhigen Flug nach Buenos Aires denke
(übrigens mit Spanair über Madrid...). Das erste, was
mir und Julia deswegen einfiel, nachdem wir ausgiebig in Buenos Aires
herumgeschnuppert und uns eine schöne Bleibe gesucht hatten,
war daher Urlaub! Ziemlich spontan ging es deswegen nach wenigen Wochen
in der Hauptstadt Argentiniens zum Busbahnhof... und direkt am
nächsten Tag in Richtung Norden an die Grenze zu Bolivien. Im
Jahr 2000/2001, unterwegs mit den Kollegen von APATIA NO wurde uns die
Einreise nach Bolivien verwehrt, weshalb das Land noch immer auf meiner
„to do“ Liste verweilte. Außerdem ist
Bolivien punkrocktechnisch gesehen immer noch Brachland, weshalb es
höchste Eisenbahn war, dort auch mal nach dem Rechten zu sehen
und ein paar Punkrocker aufzutreiben. Nebenbei bemerkt locken
natürlich auch noch diverse Naturschauspiele und kulturelle
Besonderheiten, welche ganze Herden an nordamerikanischen und
europäischen Touristen ins Land treiben.
Der erste Vollkontakt mit Bolivien fand in Villazón, im
Süden des Landes statt. Der Grenzübertritt war
erfrischend unproblematisch und verstörte nur durch die
seltsame Fragestellung auf den Migrationszettelchen: „
Waren Sie schon einmal an Spionage beteiligt?“,
„Sind Sie Drogendealer?“, „Haben Sie
schon einmal einen Mord begangen?“.Von Villazón
wird in jedem Reiseführer abgeraten, da es in der
argentinischen Grenzstadt La Quiaca die „besseren
Unterkünfte und die saftigeren Steaks“
gäbe. Voller Befriedigung stellten wir daher fest, dass
Villazón wesentlich lebendiger als das trostlose Kaff La
Quiaca ist und sich zudem auch noch ein Restaurant finden
ließ, in welchem man uns köstliches veganes Essen
zubereitete. Abgesehen von diesem prima Einstieg ist
Villazón durch seine Schmuggelaktivitäten ein
reizvolles und quirliges Städtchen, in dem allerlei Plunder
aus Fernost an die Tagestouristen aus Argentinien verscherbelt wird.
Dementsprechend kann man in Villazón so ziemlich mit jeder
Währung handeln und alle erdenklichen Raubkopien erwerben. Es
ist immer wieder sehr interessant zu sehen, wie sich an den scheinbar
abgelegensten Grenzstationen dieser Welt ein Abbild des
Weltwirtschaftens abzeichnet: Schmuggel, Ausbeutung, Raubkopie,
Multinationale Konzerne und Plastik aus China. Ein Mikrokosmos des
Kapitalismus, ein Mikrokosmos des Konsumterrors, der aber selbst uns
dazu verführt uns mit billigen Produkten zu versorgen.
Allerdings verschoben wir diesen Einkaufswahn auf die
Rückreise, denn nicht schon jetzt wollten wir unsere ohnehin
viel zu schweren Rucksäcke mit noch mehr Ballast
füllen.
Da wir keine besonderen Pläne für unsere Reise
gemacht hatten, bestiegen wir schon wenige Stunden nach unserer Ankunft
einen Bus, der uns nach Sucre bringen sollte. Kurzfristig wurde der
geplante Trip nach Tarija, welches nur wenige Stunden entfernt liegt
abgesagt, da die einzige Busverbindung den Zielort mitten in der Nacht
erreichen würde. Sucre allerdings erreichten wir für
Punker-Verhältnisse auch mitten in der Nacht – und
zwar um 6 Uhr früh. Nach einer 13-stündigen Busfahrt,
die schon mächtig an den Nerven gezehrt hatte, denn das
Busunternehmen war nicht dazu imstande gewesen die Platzverteilung zu
organisieren, weshalb die erste Stunde ein mit Schimpfworten und
Bockigkeiten durchsetzte Diskussion über die besten
Plätze entbrannte. Wir waren so dämlich und beendeten
das Theater indem wir uns dazu bereit erklärten die miesesten
Plätze zu übernehmen. Die letzte Reihe in einem Bus
zeichnet sich bekanntlich dadurch aus, dass einem der Vordermann
rücksichtslos seine Lehne auf die Knie knallt, man selbst
nicht den Spielraum hat um sich nach hinten zu entfalten und dass man
jede kleinste Unebenheit der Straße verstärkt
wahrnimmt. Selbstverständlich führte uns der Weg
ungefähr 10 Stunden über unwegsame Schotter- und
Sandpisten, bevor wir eine einigermaßen geteerte
Straße erreichten. Zu allem Überfluss
öffnete sich das Fenster zu meiner Seite immer wieder ohne
fremdes Zutun, weshalb ich schon nach wenigen Kilometern den stechenden
Geschmack von Staub nicht mehr aus der Fresse bekam. Keine Frage, dass
ich mir das Trinken verkniff, schließlich gab's im Bus kein
Klo und wann die nächste Pause eingelegt würde stand
in den Sternen. Kurz gesagt: es war eine recht ordentliche
Scheißfahrt!
Um so besser, dass uns Sucre bestens reinlief. Ein schönes
Städtchen mit mächtig viel Kolonialarchitektur, einem
der schönsten Märkte in ganz Bolivien und obendrein
ein feines Frühlingsklima. Was uns allerdings
verstörte war die ziemliche Maulfaulheit der Bolivianer, die
kaum einen geraden Satz mit uns wechseln wollten und schon gar nicht
auf Fragen reagierten. Scheiße, ich glaube so
ähnlich fühlt man sich als Fremder in Deutschland. Es
schlug uns eine unangenehme Mischung aus Desinteresse und Verachtung
entgegen, die ich in so einer Form noch an keinem Ort in
Südamerika wahrgenommen habe. Leider änderte sich
daran im Laufe der Reise auch herzlich wenig, weshalb wir immer wieder
aus der Fassung gerieten. Es war so gut wie unmöglich
vernünftige Gespräche oder einfache, freundliche
Unterhaltungen mit der Bevölkerung, mit Mitreisenden oder mit
Verkäufern zu führen. Überall gab es
schweigen, einige ruppige Worte und haufenweise Desinteresse. Schade,
denn eigentlich hatten wir uns besonders darauf gefreut Menschen zu
treffen und kennen zu lernen, da uns der übliche Hullygully-,
Nationalparks- und Landschaftstourismus ziemlich am Arsch vorbei geht.
Wir sind eben auf der Suche nach Menschen, nach den Besonderheiten der
Gesellschaft, auf der Suche nach einem tieferen Zugang zu einem Land.
Dass dies in Bolivien nicht möglich war, ist einerseits
ziemlich schade, erklärt aber andererseits auch, weshalb es
dort ziemlich lebendige Traditionen verschiedener Indigena-Gruppen
gibt, die sich eben nie völlig von äußeren
Einflüssen haben überrollen lassen. Der Reiz den
dieses Land und seine Bevölkerung ausübt, ist also
scheinbar auch in der Verweigerungshaltung gegenüber
„Fremden“ begründet. Damit umzugehen fiel
uns dennoch schwer, da uns kaum etwas anderes übrig blieb als
unseren Redebedarf mit anderen „Gringos“ zu decken,
denn auch die Kontaktaufnahme mit der Punkszene war nicht all zu
einfach. Unsere Versuche den alten Freund Memo in Sucre zu kontaktieren
waren leider nicht fruchtbar. Memo hat schon Mitte der 90er Jahre die
Grind-Klopper-Band ESCATOFAGIA gegründet, die dank ihres Tapes
„Mother Coca takes Revenge“ und vor allem wegen
ihrer Single auf View Beyond Records auch außerhalb Boliviens
bekannt wurden. Zu unrecht, wie viele Leute meinen, denn der total
desaströse Gurgel-Holper-Grind dieser Kapelle wird weitgehend
als Lachnummer wahrgenommen. Nichtsdestotrotz hatten ESCATOFAGIA eine
Vorreiterrolle inne und waren vor allem durch ihre anarchistischen
Ansichten, den Blackmetal-Kapellen, mit denen sie die Bühne
teilen mussten, um einiges voraus. Keine Ahnung, was aus der Band oder
aus Memo geworden ist... das letzte mal habe ich den Kerl in Caracas im
Jahr 2002 gesehen.
Betrübt über die mangelnden Szenekontakte
ergötzten wir uns zumindest an den wenigen vegetarischen
Restaurants in Sucre, wobei vor allem jenes Lokal hervor stach in dem
vegetarisches Essen nebst (!) deutschen Fleischspezialitäten
feil geboten wurden Unglaubliche Sachen gibt's! Unglaublich auch, dass
wir bei unserem zweiten Besuch des Restaurants auf zwei Gestalten
trafen, die ganz eindeutig der europäischen Crustie-Szene
zuzuordnen waren. Ich war ganz schön baff festzustellen, dass
es sich bei den beiden um Daniel und Sabi aus Bregenz handelte, die ich
seit Jahren nicht gesehen hatte. Wir feierten diese unverhoffte
Zusammenkunft gleich bei ein paar Kannen Bier und verabredeten uns
für den nächsten Tag zum Wandern! Richtig
gehört, genau die Art von körperlicher
Ertüchtigung, gegen die ich mich meine ganze Kindheit und
Jugend gesträubt habe. Man wird aelter, weiser und spiessiger.
Aber hey, durch fremde Länder zu latschen und sich die Natur
anzuglotzen ist einfach etwas anderes als mit Mama und Papa durch Tirol
zu eiern, oder? Deswegen unternahmen wir nicht nur einen
schönen Ausflug mit Daniel und Sabi sondern marschierten bei
jeder nächstbesten Gelegenheit durch die Landschaft. So auch
in Samaipata, einem Ort vor den Toren von Santa Cruz. Samaipata ist ein
kleines, entspanntes Örtchen, in dessen Umgebung nicht nur der
Nationalpark Amboro, sondern auch noch eine spektakuläre
Prä-Inka-Ruine namens El Fuerte liegt. Hoch oben über
den Ausläufern der Anden ist dort in einen riesigen Sandstein
eine Unzahl an Symbolen, Nischen und Figuren eingeritzt, über
deren Ursprung so ziemlich gar nichts bekannt ist. Selbst die Inka
standen wohl einem Rätsel gegenüber, ließen
es sich jedoch nicht nehmen, diesen heiligen Felsen ebenfalls als
Kultstätte zu nutzen. Irgendwelche idiotischen Touristen haben
in der Vergangenheit allerdings so auf dem Stein herum randaliert, dass
man sich das ganze Ding heute leider nur mit Sicherheitsabstand
betrachten kann. Trotzdem kam uns der Ausflug vor, wie unser ganz
persönlicher Aufstieg zum Machu Picchu. Tolles Ding, tolle
Landschaft und sicherlich auch was für Esotherikspinner, die
hier auf die Ankunft von Ufos warten könnten.
Santa Cruz, die östliche „Hauptstadt“ des
Landes selbst war mit ihren entsetzlichen Hostel-Zimmern (eine karge
Mischung aus Einzelhaft und Mönchszelle – obendrein
auch nicht gerade billig) und einem lausigen Angebot an
Märkten und Restaurants alles andere als einladend. Zwar
spielt sich in dieser Gegend wohl eine Menge an kulturellem Leben ab,
davon bemerkten wir auf die Schnelle jedoch reichlich wenig. Immerhin
schaffte ich es ein paar CDs von lokalen Punkbands aufzutreiben. Die
Mini-CD „hey ho let's rock“ der Band MARY JANE'S
AFFAIR ist dabei die wohl peinlichste Scheibe, die ich mir im Verlauf
der letzten Jahre gekauft habe. Zwei lächerliche
Hampelmänner, die hier coole Rockmusik mit
unerträglichem Poser-Englisch darbieten und sich nicht mal
für das weltschlechteste Musikvideo der Welt schämen.
Der Gipfel der Uncoolness sind die Grüße an Gott
(!!) und der Vermerk, dass „all rights reserved“
sind. Ach fickt euch, eure langweilige Rockscheiße ohne ein
Fünkchen Wut und Angepisstheit, dafür garniert mit
Kindergarten-Rap, erträgt sowieso keine Sau.
Wesentlich besser sind hingegen SINFOBIA, die auf ihrer CD
„Para que resbale mejor“ 7 Songs flotten und
melodischen Punkrock bieten. Nicht gerade ausgereift oder umwerfend,
aber immerhin solider, simpler Punkrock. Für meinen Geschmack
zwar ein bisschen zu nahe am Tralala-Kinderpunk, aber immer noch
einigermaßen im grünen Bereich.
Beste Band im Bunde sind zweifellos CALAMBRE, die auf ihrer CD
„Un ritmo nuevo...“ gleich von Anfang an gut auf
die Tube drücken und aggressiven und schnellen Punkrock
spielen. Hier wird jedenfalls auch mal richtig gebrüllt und
derbe gerotzt. Vor allem die gute Produktion, der Einfallsreichtum der
Band und das enorme Selbstwertgefühl des Sängers,
lassen diese CD zum Gewinner werden. Sozialkritische Texte gibt es oben
drauf und lediglich der Hang zum Rock, statt zum Hardcore ist etwas
schade.
Soviel zum Thema Punkrock! Es geht also etwas in Santa Cruz, allerdings
konnte uns die Stadt trotzdem wenig begeistern und auch das
schöne und heiße Wetter konnte nichts daran
ändern, dass wir Santa Cruz ziemlich schnell den Stempel
„öde und langweilig“ draufknallten. In
unseren Augen ist Santa Cruz nichts weiter als eine ziemlich
durchschnittliche Stadt, die sich in dieser Form auch irgendwo in der
abgelegenen Provinz von Brasilien finden könnte. Das deutet
auch schon darauf hin, was uns am interessantesten an Santa Cruz
erschien. Die Stadt ist derart unterschiedlich von den großen
Städten des bolivianischen Hochlandes, dass man
tatsächlich das Gefühl hat sich in einem anderen Land
zu befinden. Dieser Umstand reichte jedoch bei weitem nicht aus, um uns
länger als zwei Tage an den Ort zu fesseln. Nichtsdestotrotz
bekamen wir eine ungefähre Ahnung davon, worauf die Spannungen
innerhalb der bolivianischen Gesellschaft beruhen. Wirtschaftlich gut
gestellte Provinzen, wie Santa Cruz versuchen sich nicht in eine
zentralistisch geprägte Politik, die von La Paz ausgeht,
einbinden zu lassen und beharren auf ihrer Unabhängigkeit,
bzw. darauf, dass die Einnahmen aus dem Ölgeschäft in
der Region bleiben und nicht „im Land versickern“.
Dass es sich dabei nicht nur um einen rein wirtschaftlichen Konflikt
handelt wird eben offensichtlich, wenn man sich die
kulturellen Unterschiede zwischen Hoch- und Tiefland
anschaut. Trotzdem wittert der Präsident Evo Morales hinter
den Autonomie-Bestrebungen natürlich nichts anderes als den
US-amerikanischen Imperialismus, der sich gegen seinen
Pseudosozialismus wendet. Gestärkt durch den
Verbündeten Hugo Chavez und seine Petro-Dollars wird hier
Kalte-Kriegs-Polemik aufgekocht, die nach wie vor gut bei der
Bevölkerung ankommt. Wenn in Bolivien ein Sack Reis
umfällt, dann steckt mit Sicherheit der Ami dahinter. Wie gut,
dass man die Gringos hat, denen man jedes schwer zu lösende
Problem locker unterschieben kann. Dementsprechend wird dann
natürlich auch die Bevölkerung von Santa Cruz als
geldgierig, kapitalistisch und bourgois verunglimpft und somit die
Spaltung des Landes weiter untermauert. Der erste Schritt zur
Lösung der Probleme Boliviens wäre es zu akzeptieren,
dass es eben keine einfachen Lösungen und vor allem keine
einfachen Probleme gibt, auch wenn ein vom Personenkult umwehter
Populist wie Evo Morales dies mit seinen
Schwarz-Weiss-Erklärungen der Bevölkerung immer
wieder einzutrichtern versucht: „Wir sind die Guten. Die
anderen sind die Bösen!“ Dass aber selbst Evo
Morales langsam kapiert hat, dass sein Land droht auseinanderzubrechen,
erklärt die zahlreichen Werbefilmchen, die mittlerweile mit
staatlicher Unterstützung über die Kanäle
gejagt werden. All zu sehr erinnern diese Clips an die
unsägliche „Du bist Deutschland“-Kampagne,
die ja auch nichts anderes war als die Vorbereitung zu einem neuen
Nationalgefühl. Genauso in Bolivien, wo die Einigkeit
innerhalb der Bevölkerung wohl nur noch durch einen
ausgeprägten Nationalstolz gesichert werden kann.
Dementsprechend häufig flattern einem in Bolivien dann auch
die Nationallappen um die Ohren und man wird andauernd
genötigt die Vorzüge des Landes zu betonen und
Bolivien zu loben. Ich kotze im hohen Bogen, wenn ich an all diese
depperten Kleingeister in Europa denke, die sich aufgrund des
Linksrucks in Lateinamerika eifrig einen runterholen, weil sie darin
die Erhebung der unterdrückten Masse sehen.
Wenn sich die Masse erhebt und dabei nur stumpfer Nationalismus und
Schwarz-Weisser-Bockmist herauskommt, dann soll die Masse meinetwegen
mit ihrer Nationalkarre ordentlich vor die Wand knallen!
Aber weiter im Text... wir machten uns schnurstrac ks davon... weiter
nach Trinidad, der Provinzhauptstadt des Bundeslandes Beni.
Schnurstracks ist dabei allerdings wieder eine maßlose
Übertreibung, denn zunächst standen wir 3 Stunden im
Stau, um auf unsere Gelegenheit zu warten, einen Fluss auf einer
Eisenbahnbrücke zu überqueren. Ein weiteres Bonbon,
welches uns die Warterei versüßte war die defekte
Klimaanlage, welche die gesamte Belegschaft des Busses entweder in
hemmungslose Rage oder betäubte Apathie versetzte –
keine Ahnung, wie wir diesen Hitzekoller überstehen konnten.
Gebeutelt von dieser Tortur kamen wir in Trinidad an und mussten zu
unserem Entsetzen feststellen, dass der Reiseführer
ausnahmsweise die Wahrheit berichtet hatte. Trinidad unterstreicht
seinen provinziellen Status dadurch, dass a) sämtliche
Einwohner mit Mopeds herum düsen und b) die Kanalisation der
Stadt offen liegt. Der erste Aspekt sorgt dafür, dass man sich
in Trinidad kaum normal unterhalten kann, weil ständig ein
kaputter Vergaser oder ein frisierter Auspuff dazwischen
röhrt. Punkt b) hingegen sorgt für einen permanent
wabernden Kloakeduft und für Panik im Angesicht der Bazillen
und Krankheiten, die sich in der unter tropischer Sonne kochenden
Scheiße entfalten. Außerdem wirkt es wirklich etwas
verstörend, wenn besoffene Kneipengäste gar nicht
erst die Toilette aufsuchen, sondern direkt von der
Eingangstür aus in den Rinnstein seichen. Apropos Besoffene!
Wir schätzen uns glücklich ein günstiges
Zimmer mit ausreichendem Moskitoschutz und mehreren greisen Rentnern
als Mitbewohner gefunden zu haben – allerdings stellte sich
erst des Nachts heraus, unter welchen Mangel unser Zimmer diesmal litt:
Nachtruhe! Denn direkt neben unserem Zimmer befand sich eine
Karaoke-Bar in der pünktlich ab 20 Uhr Schmachtfetzen und
Schlager intoniert wurden. Je später der Abend desto
betrunkener die Gäste und desto überheblicher die
Versuche seine eigene Stimme ins rechte Licht zu setzen. Wir wurden
Zeuge von entsetzlichen Entgleisungen, die an Songs praktiziert wurden,
die ohnehin schon Entgleisungen des guten Geschmacks sind. Aber sei's
drum, denn Trinidad hatte noch ein paar weitere Vorzüge im
Schlepptau. Zum Beispiel war der Pool eines schickeren Hotels, den wir
für eine geringe Eintrittsgebühr ausgiebig nutzen
konnten, ein echter Bringer. Aber vor allem die recht entspannte
Lebensweise in der Tropenhitze, das großartige Obst, welches
wir auf dem Markt finden konnten und der allabendliche Cruising-Sport
der Bewohner (mit den Mopeds immer rund um die zentrale Plaza) machen
Trinidad zu einem wirklich netten Ort. Außerdem ist hier der
internationale Tourismus so gut wie überhaupt nicht
präsent – mit dem Nachteil allerdings, dass zum
Beispiel Exkursionen in die umliegenden Gebiete ziemlich kostspielig
sind (zumindest im Vergleich). Trotzdem blieben wir nicht all zu lange,
da wir abermals auf unseren Reiseführer vertrauten und uns
nach San Ignacio de los Moxos begaben, um dort dem alljährigen
Treiben bei der San Ignacio Prozession beizuwohnen. Scheinbar DAS
Highlight der Tiefland-Folklore, bei dem zahlreiche Indigenas aus ihren
versprengten Siedlungen zusammenfinden, um eine krude Mischung aus
christlicher Heiligenverehrung und traditionellen indigenen Ritualen,
Taenzen und Gesaengen zu zelebrieren. Wow!
Der Weg nach San Ignacio war – wie könnte es anders
sein in einem Land in dem nur 2 Prozent des Straßennetzes
asphaltiert sind – beschissen. Für die 92 Kilometer
benötigten wir ganze 4 Stunden, inklusive dreier
Flussüberquerungen. Auch in San Ignacio selbst lief es weniger
rund. Im Hotel, in welchem wir ein Zimmer reserviert hatten
(schließlich gibt es in San Ignacio gerade mal drei
Herbergen) zeigte man sich ratlos, da man sich zwar an uns erinnern
konnte, allerdings kein freies Zimmer mehr im Angebot hatte. Der Chef
des Hauses, ein etwa 80jähriger Greis überlegte etwa
eine halbe Stunde bevor er uns das Zimmer seines Enkels herrichten
ließ – immer noch für den unglaublichen
Preis von stolzen 15 Euro pro Nacht (ansonsten liegen die Preise
für Übernachtungen in Bolivien zwischen 2 und 10
Euro). Zudem war das Zimmer so ziemlich das mieseste Loch, welches wir
auf unsere ganzen Reise bewohnen sollten – da halfen auch die
zahlreichen Sportposter und Unterwäsche-Werbungen nicht, mit
denen der Enkelsohn seine Butze dekoriert hatte. Stimmung kam dann
wieder auf, als wir uns im Dorf umsahen und feststellten, dass bereits
kräftig gefeiert wurde – unter anderem das
Ziegenfest, bei dem nicht nur Tiere anzuschauen, sondern auch gleich
noch zu verköstigen waren. Recht makaber, aber insofern gut,
als man durchaus auch Gerichte ohne Ziege probieren konnte. Neben dem
obligatorischen Reis (dazu später mehr) gab es leckeren
Palmherzsalat, eine Art süßen Kartoffelsalat,
Yucca-Stücke und Kochbananen.
So richtig los ging es mit dem Fest dann allerdings erst am
nächsten Tag, als schon ab früh morgens Musikkapellen
und Tanzgruppen im Dorf ihr Unwesen trieben. Mit seltsamen
Holzgesichtern maskierte Männer, mit Federkronen
geschmückte Opas, bunt gekleidete Frauen und massenhaft
Kinder, die in verschiedenen Gewändern oder Verkleidungen
durch die Gegend hüpften, bevölkerten nun das Dorf.
Unzählige Schaulustige, aber
verhältnismäßig wenige westliche Touristen
beobachteten das wilde Treiben, welches am ersten Abend mit einem
chaotischen Feuerwerk beendet wurde. Ohne Unterlass zündeten
die Gruppe der Maskierten ohrenbetäubende
Kanonenschläge und stürzten sich mit
funkensprühenden Kopfbedeckungen in die panisch auseinander
rennende Meute. Die entzündeten Raketen, die eigentlich den
Nachthimmel erleuchten sollten, schossen immer wieder fehlgeleitet
durch die Zuschauermengen und sorgten für Angst und Schrecken.
Ein beeindruckendes Spektakel, bei dem einem
deutschen TÜV-Beamten der kalte Schweiß in den
Schuhen gestanden wäre. Insgesamt waren die Tage gespickt mit
wirklich interessanten Ritualen, Tänzen und Verkleidungen,
deren Sinn und Inhalt sich uns allerdings selten erschloss. Unsere
unzähligen Versuche genaueres über die
Brauchtümer in Erfahrung zu bringen, wurden von den murmelnden
Einheimischen mit Ausflüchten und kruden Geschichten
beantwortet. Immerhin konnten wir in Erfahrung bringen, dass Alkohol
bei solch einem Fest durchaus eine Rolle spielt. Dementsprechend
verballert liefen einige Gestalten durch die Gegend – als
Tourist ist man da natürlich erstes Opfer für
schlechte Sprüche oder Freundschaftsbekundungen. Aber damit
konnten wir locker umgehen. Eher schlecht ging es unseren
Gedärmen, die nunmehr seit ein paar Tagen nur von Reis und
einigen Früchten genährt wurden und somit
irgendwelchen Bazillen weit weniger entgegen zu setzen
hatten, als uns lieb gewesen wäre. Julia bekam als erste
Fieber, hielt sich aber ziemlich wacker. Ich hingegen klappte
förmlich zusammen und derillierte zwischen Durchfallkraempfen,
Schüttelfrost und Schweissausbrüchen vor mich hin und
wollte am liebsten hier und heute den Löffel abgeben. Die Lage
wurde auch noch dadurch verschlimmert, dass wir in diesem
besagten, ranzigen Zimmer verbleiben mussten, weil ein einsetzender
Tropensturm das ganze Dorf unter Wasser setzte. Davon ließen
sich allerdings die zahlreichen fiependen und rödelnden
Kapellen nicht beeindrucken, die bis ins Morgengrauen mit ihrem
schrägen Tamtam fortfuhren. Trotz oder gerade wegen unserer
schwachen Verfassung, gab es für uns nur einen Gedanken: Nix
wie weg hier!! So schön das Fest auch war, der Regen, das
Fieber, das Essen und nicht zuletzt die katastrophalen
sanitären Anlagen, hatten uns ordentlich eingeheizt. San
Igancio de los Moxos ist ja nicht gerade der Nabel der Welt, weshalb
die zwei Busse, die – sofern es die
Straßenverhältnisse erlauben - täglich
durch das Dorf brausen, meistens restlos ausgebucht sind. Wir schafften
es einen Fahrer zu überzeugen uns dennoch mitzunehmen.
Allerdings mussten wir dafür tief in die Tasche greifen und
mit einem Platz auf dem glühend heißen Motorblock
Vorlieb nehmen. Nach der letzten Nacht mit 40 Grad Fieber und
anhaltenden Bauchkrämpfen, war diese Position –
milde umschrieben – suboptimal. Suboptimal übrigens
auch mal wieder die Straßenverhältnisse. Der
üppige Regen hatte die ohnehin miese Piste in eine einzige
Schlammgrube verwandelt, die nur unter höchster Anstrengung zu
durchkreuzen war. Wir begegneten zahlreichen Karren, die schon im
zaehen Morast stecken geblieben waren und deren
Fahrer und Beifahrer nun ratlos um die Kisten herum standen. Und
irgendwo erwischte es uns dann natürlich auch noch. Zum
Glück bekamen wir die olle Mühle wieder aus dem Dreck
und konnten die beschwerliche Fahrt nach San Borja
weiterführen. Überflüssig zu
erwähnen, dass wir mit gehöriger Verspätung
(6 statt 3 Stunden) ankamen und dementsprechend froh waren, dass wir
tatsächlich noch einen Anschlussbus nach Rurrenabaque bekommen
würden. Allerdings wurden aus den versprochenen 4 Stunden
Fahrt über eine „Piste in sehr gutem
Zustand“, eine 7-Stunden-Marter mit ordentlich Staub,
Schlaglöchern und keiner Möglichkeit die Beine
auszustrecken.
Wie gut, dass uns Rurrenabaque förmlich mit offenen Armen
empfing und wir um 3 Uhr Nachts noch eine geschlagene Stunde durch
dieses Kaff kreuzen mussten, bevor uns irgend ein Hotel die Pforten
öffnete. Wir fühlten uns gebeutelt, geschunden,
ausgelaugt, ausgebrannt und hundeelend! Und zu allem Überfluss
verbrachten wir die nächsten paar Tage hauptsächlich
damit das nächstbeste Scheißhaus aufzutreiben.
Nichtsdestotrotz waren wir überglücklich im
entspannten Rurrenabaque angekommen zu sein, welches dank seiner
Nähe zum berühmten Nationalpark Madidi, bestens auf
Touristen eingestellt war. D.h. Drinks, Essen, Haengematten und
tropische Temperaturen.
Nachdem wir vollständig kuriert waren, konnten wir uns ins
nächste Abenteuer stürzen: eine 4-tägige
Boots-Fahrt durch den Madidi-Nationalpark, von Rurrenabaque nach
Guanai. Da der Madidi-Park eine Vielzahl an verschiedenen
Ökosystemen umfasst, sich von der Tieflandzone bis hin zu den
verschneiten Gletschergipfeln erstreckt, weil er zudem weitgehend
„unberührt“ und unzugänglich ist,
gilt er als einer der schönsten und artenreichsten
Naturreservate Lateinamerikas, wenn nicht sogar der Welt. Klar, dass
wir uns auch nicht davon abschrecken ließen, dass wir die
nächsten 4 Tage zusammen mit 4 rotgebrannten
Engländern verbringen würden. Das waren leider
tatsächlich eine ordentliche Gruppe an stumpfen
Adventure-Touristen, die uns schon nach dem ersten Tag gehörig
auf den Geist gingen. Aber egal, denn die Fahrt durch den Dschungel war
bezaubernd und schlichtweg der Hammer, auch wenn wir natürlich
ganz schön leiden mussten. Wir schütteten uns zwar
permanent irgendwelche Anti-Insekten-Mittelchen über die Haut
und versuchten uns trotz der erdrückenden Hitze
möglichst geschlossen zu kleiden, aber spätestens
beim Scheißen entblößte man dann doch
unbedacht eine Hautpartie, auf welche sich das blutsaugende Gekrieche
stürzte, wie eine Horde Schnäppchenjäger.
Als mir dann auch noch eine rote Riesenameise in den Bauch biss, hatte
ich auf alle Fälle die Schnauze voll von Insekten und
versuchte mich nachts im miefigen Moskitoschutz zu verbarrikadieren.
Die Nächte waren aber auch ohne Insektenübergriff
ziemlich unruhig, weil es entweder wie aus Eimern goss und man damit
beschäftigt war das ganze Gepäck zu versorgen, oder
aber es war siedend heiß und man kochte derart im eigenen
Saft, dass man glaubte den morgen nie und nimmer zu erleben. Aber egal,
denn schließlich wurden wir mit wunderbaren Exkursionen in
die satte Natur belohnt, konnten immer wieder über Pflanzen
und Tiere staunen und lauschten abends, bei veganem Essen, welches dank
unserer herzlichen Köchin Erika üppig und superlecker
war, dann dem Geschrei der Brüllaffen. Leider ist aber selbst
der Madidi-Park kein wirklich unangetasteter Naturpark. Wie uns unser
Guide Sebero berichtete seien in den 70er und 80er Jahren massiv
Jaguare und andere Katzen aufgrund ihrer Felle gejagt worden. Und seid
die Tiere immer schwieriger zu finden sind, sei man dazu
übergegangen wertvolle Tropenhölzer zu schlagen. Da
auch den meisten Zedern und Mahagoni-Bäumen der garaus gemacht
worden sei, ist nun der nächste Boom ausgebrochen: die
Goldsuche! Und tatsächlich kamen wir auf unserem Weg nach La
Paz immer häufiger an kleinen Siedlungen und Camps von
Goldsuchern vorbei, die im trüben Wasser der Flüsse
nach Goldstaub suchen. Die pure Armut treibt zudem immer mehr Menschen
aus dem Hochland in die vermeintlich fruchtbaren Gebiete des
Dschungels, um dort als Bauern ein mehr schlecht als rechtes Dasein zu
fristen. Was der Mensch im Dschungel mit sich bringt ist klar:
Rodungen, die sich auch aufgrund der steigenden Lebensmittelpreise,
immer weiter ausdehnen. Da erscheinen dann die ehrgeizigen
Pläne zur Landreform eines Präsidenten wie Evo
Morales, der der armen Bevölkerung Land und Nahrungsmittel
verspricht, dann plötzlich doch sehr fragwürdig. Wenn
der Magen knurrt, dann ist eben auch die Natur scheissegal! Wir
verließen den Dschungel also durchaus mit gemischten
Gefühlen... und kamen nach einer abermals ätzenden
Fahrt (8 Stunden statt der angekündigten 4 Stunden... die
Gangschaltung war kaputt und wir konnten irgendwann nur noch im ersten
Gang daherschleichen) mit ebenso gemischten Gefühlen in La Paz
an. Das mag daran liegen, dass La Paz mit seiner Höhe von
3800m schon von Natur aus ziemlich atemberaubend ist. Die Höhe
spürt man ziemlich deutlich... an Kurzatmigkeit, Schwindel und
einem fiesen Pochen im Hinterkopf. Aber auch ohne diese Dreingabe ist
La Paz ein ganz schöner Kracher. Die riesige, rotbraune Stadt
ist ein unübersichtliches Gewirr von Rohbauten, die sich
übereinander stapeln und die graubraunen Berge hinaufkriechen.
Die trockene, braune Landschaft verschmilzt geradezu mit den
hässlichen Gebäuden, während der
mächtige, schneebedeckte Illimani-Gipfel auf das Treiben der
Menschen hinunter zu blicken scheint. Wahrlich keine schöne
Stadt, aber ein faszinierender Anblick an dem ich mich nicht so schnell
satt sehen konnte. Auch von dem quirligen Leben und den
unzähligen Marktständen, welche die Straßen
der Stadt füllen, konnte ich kaum genug bekommen. La Paz hatte
mich ziemlich schnell in seinen Bann gezogen, auch wenn ich nicht
wirklich feststellen konnte woran das lag. Im Vergleich zu anderen
Metropolen Lateinamerikas wirkt La Paz sehr gemütlich und
– vor allem was das kulturelle Angebot betrifft –
verschlafen... auch wenn auf den Straßen permanent das Leben
tobt. La Paz scheint ein einziger großer Marktplatz zu sein,
auf dem alle erdenklichen Gebrauchsgüter angeboten werden.
Dabei denke ich nicht nur an die touristisch inszenierten
Stände des Hexenmarktes (auf dem neben Lama-Föten
auch alle Formen von abgeschlachteten und getrockneten Viechern zu
erwerben sind (inkl. Jaguarfellen, etc.)), sondern an die
Verkäufer, die sich auf bestimmte Artikel spezialisiert haben:
Nägel, Kerzen, Heiligenbildchen, Kuchen, Waschpulver,
Wärmflaschen, Spielzeuge, touristischer Ramsch und
natürlich immer wieder Raubkopien von Filmen und Musik. La Paz
ist trotz seiner Armut ein Ort an dem sich so ziemlich alles finden
lässt – bzw. wo man zumindest eine Raubkopie des
gewünschten Produktes auftreiben kann. Sofern man sich diese
leisten kann. Für den europäischen Touristen herrscht
hier natürlich Schnäppchenfieber pur, für
Bolivianer sieht es aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der
verschwindend geringen Löhne (als Koch, Verkäufer
oder Kindermädchen gibt es beispielsweise den mageren
Monatslohn von 40-60 Euro) allerdings ganz schön finster aus.
Kein Wunder, dass Bolivien daher immer mehr den Ruf angehaftet bekommt
ein unsicheres Reiseland zu sein – die
Kriminalitätsrate steigt eben mit der Armut. Allerdings
blieben wir von Langfingern und Räubern verschont und hatten
auch so eher den Eindruck, dass Bolivien und auch La Paz
verhältnismäßig sicher sind. Und das obwohl
die Touristen, die vor allem in La Paz unter der
Höhenkrankheit zu leiden haben, wirklich wenig Gegenwehr
leisten könnten. Aber nach Einbruch der Dunkelheit
verbarrikadieren sich die meisten Touristen sowieso in ihren Herbergen,
da es einerseits schweinekalt wird und andererseits das Nachleben alles
andere als berauschend ist. Selbst in den Touristenabsteigen ist es
allerdings nicht gerade kuschelig und gemütlich, denn Worte
wie Doppelglasfenster, Isolierung oder Heizung sind trotz der
empfindlichen Kälte, die nachts in La Paz herrscht, absolute
Fremdworte. Statt in unserem Zimmerchen zu bibbern zogen wir es also
vor mit der bolivianischen Anarchopunkszene in Kontakt zu treten und
uns mit ein paar Getränken zu wärmen. Josh aus La Paz
und Rena aus Peru zogen gleich mit uns zur einzigen
vernünftigen, bzw. alternativen Kneipe: eine absolute
Hippieabsteige bestehend aus einem verrauchten Räumchen, bunt
bemalten Wänden und rauschbärtigen Gästen.
Alter Vater, genauso stelle ich mir irgendwelche illegalen Kneipen in
einem besetzten Haus im Berlin der 1968er Jahre vor. Ich hege ja
wahrlich überhaupt keine Sympathien mit dem Hippiefratzen;
hier in La Paz war ich jedoch glücklich endlich auf ein paar
Menschen zu treffen, die sich eben nicht der
Durchschnittsbevölkerung anpassen. Da die Anarchopunkszene
ohnehin nur aus 8 bis 10 Personen besteht, muss man sich eben auch mal
mit Hippies arrangieren, die in ihrer Kneipe dann auch noch lustige
Getränke ausschenken: Kraeutertee mit Schnaps! Wir piffen uns
ein paar Kannen rein, bevor wir uns dazu entschlossen noch in einer
anderen Lokalität unser Glück zu versuchen. Auf der
Suche nach einem Glas Bier stürzten wir in eine Cumbia-Disco
rein, in der man uns offenbarte, dass es nur noch Vodka oder Rum zu
trinken gäbe – flaschenweise versteht sich! Bei 4
Euro pro Flasche, inklusive Mischgetränk, Eis und 4 Bechern
zögerten wir natürlich nicht lange, sondern orderten
und bereiteten uns auf unseren Tanzauftritt vor. Aus den Boxen
schmetterten nämlich sämtliche Villera-Hits mit denen
wir uns auf unserer Reise schon vertraut gemacht hatten. Villera ist
der Musikstil, der in den argentinischen Villa-Miserias, den
Armenvierteln und Slums von Buenos Aires gespielt wird. Simpler
Idioten-Beat, schmalzige Texte und einprägsame Melodien, der
absolute Unterklasse-Sound, der eigentlich anständige Punker
zum kotzen bringt. Geil, dass sowohl Josh als auch Rena Feuer und
Flamme waren und gar nicht glauben konnten, dass auch wir auf diesen
Trash abfahren! Wir soffen, grölten , tanzten und freundeten
uns mit zahlreichen Schnapsdrosseln an, die zusammen mit uns tanzen
oder trinken wollten. Nachdem wir unsere zweite Flasche Vodka geleert
hatten, sah es um uns herum auch nicht mehr so fröhlich aus.
Ein paar total besoffene Vollassis saßen mit
hängendem Köpfen am Nebentisch, die besoffenen
Mädels verloren sich in den grabschenden Händen der
Tänzer und ein paar Idioten versuchten uns permanent einen
Drink aus den Rippen zu leiern. So feuchtfröhlich der Abend
auch war, so hatten wir doch genug Zeit gefunden Josh etwas
über die Punkszene in La Paz auszufragen. Er berichtete davon,
dass die Szene unter den üblichen Probleme leide: wenige
Leute, viele Selbstdarsteller, viele ignorante Idioten und
ständiger Streit darum, wer den nun die bessere politische
Idee vertritt, bzw. wer nur ein Poser sei. Die relativ junge
Anarchopunkszene von La Paz habe, obwohl die ältesten Punks um
die 23 oder 24 Jahre alt seien, schon diverse Spaltungen und Krisen
durchstanden. Davon zeugen auch die zahlreichen Bands, die sich
gegründet, aufgelöst, neu formiert und nach
Umbesetzungen neu benannt haben. Die Geschichte der Punkszene
Boliviens reicht natürlich etwas weiter zurück, als
die der Anarchopunkszene, doch so richtig viel los, war im
ärmsten Land Südamerikas noch nie. Zu
erwähnen sind auf jeden Fall SCORIA, die schon Mitte der 90er
Jahre ihre ersten Demotapes aufgenommen haben. 1997 gab's dann mit
„Yo no soy ninguno de arriba“ das erste, als
Kassette veröffentlichte Album. Die Band ist weiterhin aktiv
und hat unter anderem Fun People und Pirexia bei ihren Touren in
Bolivien unterstützt. Allerdings sind sie eher in die Richtung
Rock abgeglitten und haben mit reinem Punkrock nichts am Hut. Auch wenn
die bolivianischen Anarchopunks abwinken, finde ich diese Kapelle
durchaus interessant. Schade, dass sie sich nicht auf meine
Kontaktversuche gemeldet haben. Im Jahr 2000 veröffentlichte
dann die Poppunk-Band 7'31 ihr Album 7'31 – ein Machwerk bei
dem ich mich nicht mal trauen würde die Anarchopunks zu
fragen. Da würde ich vor Entrüstung wahrscheinlich
aus dem Land getrieben! Ganz deutlich ist die Band von Fun People
beeinflusst und muss sich dementsprechend wohl auch mit dem Vorwurf des
Kommerz herumschlagen. Ich finde die Kassette dennoch ganz ansprechend.
An neuen Bands, die allesamt der Anarchoszene entspringen und es sogar
zu Aufnahmen gebracht haben, gibt es eine handvoll zu
erwähnen. RAS haben zum Beispiel das Album „Destruir
para Konstruir“ aufgenommen, auf dem es 11 räudige
Proberaum-Aufnahmen auf die Löffel gibt. Rabiater und simpler
Anarchopunk mit tiefer Stimme, schrammligen Gitarren und rumpelndem
Schlagzeug. Aber eben durchaus charmant und mit genug Wums und Herzblut
vorgetragen, um auf der Gewinnerseite zu landen. Natürlich
sind auch alle Songs live eingespielt, was dem ganzen einen direkten
und wilden Charakter verleiht, dem so manche Band durch Tricks und
Kniffe im Studio nahezukommen versucht. Das hier ist eben einfacher,
ehrlicher und verdammt dreckiger Anarchopunk aus einem sogenannten
„Dritte-Welt-Land“. Heilige Scheiße,
genauso muss der Punk klingen!!! Muss ich da noch erwähnen,
dass die Texte verdammt cool sind und sich unter anderem gegen den
Machismo der bolivianischen Gesellschaft, die Macht der katholischen
Religion, die Bürokratie und den Patriotismus aussprechen. Das
sind Positionen, die innerhalb der bolivianischen Gesellschaft wohl nur
die wenigsten vertreten. Geil! Ansonsten ist mir noch der Sampler KAP
in die Hände gefallen, auf dem sich neben RAS noch 5 weitere
Bands aus der Anarchoszene tummeln. AKERS beginnen den Reigen mit einem
Skapunk-Song, der immer wieder schnelle Punkparts ausbricht, ansonsten
etwas holperig, aber mitreissend klingt. Die zwei anderen Songs von
AKERS sind schnelle Hardcore Stücke mit melodischer Gitarre
und rotziger Energie. Jugendlicher Wahnsinn in Reinform! AUTODEFENSA
mit ihren 3 Songs schlagen in eine ähnliche Kerbe: chaotischer
Punk mit geiler Stimme, wildem Chor und simplem Beat! Ebenfalls einfach
und geil! BLACK CROSS trumpfen mit male/female Gesang auf, der leider
bei den Aufnahmen etwas zu sehr im Vordergrund steht. Auch hier gibt es
direkten und dreckigen Punk... allerdings etwas stumpfer und
langweiliger als bei den beiden vorausgegangenen Bands. Bei
CONTIMINACION AKUSTICA geht es dann wieder aufwärts, denn hier
stimmt nicht nur der Sound, sondern auch die geil angepisste und
räudige Stimme des Sängers. Völlig kultig
auch die miesen und trashigen Gitarrensoli und der weibliche Chorus.
SIN NACION schließlich sind mindestens so geil, wie die
anderen Bands auch. Einfach Punk mit deutlicher Sprache und dem Herz am
rechten Fleck! Und wieder mit weiblichem Gesang... super! Alle Bands
erinnern ganz stark an spanischen Punk der 80er Jahre oder an die
ersten Gehversuche der kolumbianischen Punkszene. Rau, direkt und
ungebremst! Verdammt noch mal, wenn jemand das Recht hat solchen Punk
zu spielen, dann ja wohl Bands, aus einem sogenannten
„dritte-Welt-Land“. Hier noch ein kleines Zitat,
welches unterstreicht, dass auch textlich alles in bester Ordnung ist:
Freiheit wird mit Revolutionen erkaempft, nicht mit Gewalt,
lass dich in deinem Kampf nicht von Hass und Wut treiben, sondern von
deiner Liebe zur Freiheit!“Da kann ich ja nur noch meinen Hut
ziehen!
Leider hatten wir keine Gelegenheit uns von den Qualitäten der
Bands bei einem Konzertchen zu überzeugen. Statt dessen zog es
uns bei unserem nächsten Treffen wieder in die Hippie-Bar, wo
wir zudem auf ein paar reisende Punks aus Chile trafen. Wir beschlossen
sofort, dass wir auch mal eine andere Kneipe auschecken wollten.
Gesagt, getan! Josh führte uns in eine Lokalität in
der das Bier relativ günstig sei. Das waren allerdings schon
alle Vorzüge, welche die „Kneipe“
vorzuweisen hatte. Was asoziiert ihr mit den Begriffen: Bahnhofshalle,
Neonlicht, defekte Toiletten und 25 total besoffene Vollassis? Ja,
genau, hört sich schwer nach Punkerausflug an. Allerdings
waren die hackedichten Bolivianer keineswegs coole Punks, sondern
ekelhaft besoffene, prollige und abstoßende
Eierköpfe, die den Aufenthalt in dieser ungemütlichen
Saufanstalt auch nicht lustiger gestalteten. Hier ging es gar nicht
darum gemütlich zusammen zu sitzen, ein paar
Gespräche zu führen oder Menschen kennen zu lernen,
sondern einzig und allein darum, möglichst schnell und
möglichst billig so sturzbesoffen wie nur irgendwie
möglich zu sein. Ein wirklich trauriges Schauspiel, bei dem
einmal mehr deutlich wurde, wie Alkohol genutzt wir, um Kummer,
Minderwertigkeitsgefühle und Frustration hinweg zu
spülen. Da wollte bei uns absolut keine Laune aufkommen und so
verabschiedeten wir uns nicht nur von den Punks, sondern auch von La
Paz.
Am nächsten Morgen ging es erstmal weiter nach Sorata eine
etwas tiefer gelegene Stadt und durch das angenehme Microklima genau
der richtige Ort, um sich von der einsetzenden Erkältung zu
erholen, ein wenig zu wandern und die Natur zu genießen.
Allerdings hatten wir uns mit Sascha und Vonny aus Giessen am
Titicaca-See verabredet und brachen recht zügig auf, um
unseren Weg nach Copacabana zu finden. Copacabana, ist den meisten nur
vom gleichnamigen Strand in Brasilien bekannt. Dieser ist nach diesem
kleinen, touristisches Zentrum am tiefblauen Titicaca-See benannt. Ganz
einfach, weil dieses Städtchen schon zu Inka-Zeiten ein
Pilgerort war und noch immer Menschen von nah und fern anzieht, die
hier einerseits den tollen See beglotzen, oder aber auch ihr Seelenheil
finden wollen. Dementsprechend ist Copacabana auf Touristen
eingestellt! Allerdings fiel es uns mit unserer veganen Extrawurst
einmal mehr schwer ein Hostel zu finden, in dem wir kochen konnten.
Nachdem wir in La Paz mit einer voll funktionsfähigen
Küche und diversen Restaurant-Optionen (allgemein eher in
Sektenhand und weniger an Tierrechten interessiert) verwöhnt
worden waren, mussten wir hier wieder darben und uns von Avocado und
Brot ernähren. Wahrlich nicht das Gelbe vom Ei, wenn ihr mir
diesen miesen Spruch erlaubt. Egal, wir waren froh auf Sascha und Vonny
zu treffen, die zu diesem Zeitpunkt auch schon diverse Monate durch
Lateinamerika getingelt waren, und endlich vegane Leidensgenossen zu
treffen. Auf unsere Wanderung über die Isla del Sol
unterhielten wir uns deswegen auch stundenlang darüber, welche
Fleisch- und Wurstspezialitäten wir in unserem Leben vor dem
Vegetarismus/Veganismus am liebsten verdrückt haben. Wir
hatten also ziemlich viel Spaß miteinander und beschlossen
deswegen auch noch gemeinsam ein paar Tage in La Paz zu verbringen.
Sascha als findiger Fußball-Fan hatte sich auch schon
informiert, wann im höchst gelegenen Stadion der Welt die
nächste Partie anstehen würde. Und so pilgerten wir
gleich Sonntags zum Lokalderbie zwischen „The
Strongest“ und „Bolivar“. Für
die Eintrittskarten wurden uns auf dem Schwarzmarkt ganze 1,70 Euro
abgeknöpft. Da hätte man ja auch mit einem laschen
Kick vorlieb genommen. Stattdessen bekamen wir eine Partie mit
haufenweise Fouls, einer Roten Karte, einem Elfmeter und satten 4 Toren
zu sehen... und natürlich eine Höllenstimmung im
Stadion: Böller, Feuer, Rambazamba und eine Einsatztruppe der
Polizei, die sich auf den Schutz des Schiedsrichters konzentrierte.
Ganz schön geil, auch wenn man vor lauter
Eisverkäufern kaum das Spielfeld zu Gesicht bekam und Prolltum
(inkl. Rassismus) auch in bolivianischen Stadien zuhause ist.
Nächster Ausflug war dann eine Down-Hill-Tour auf der
angeblich „most dangerous road of the world“. Ein
Tourihighlight schlechthin, aber eben auch eine wirklich geniale
Möglichkeit von La Paz eine wirklich bezaubernde Landschaft zu
erkunden. Auf dem Weg vom 4800 Meter hohen Startpunkt bis in die auf
1800 Meter gelegene Stadt Corroico, passiert man nämlich nicht
nur schneebedeckte Andenlandschaft sondern auch die faszinierenden, von
Dschungelvegetation überwachsenen Schluchten der Yungas.
Leider waren wir mal wieder mit einer Idiotengruppe unterwegs, die
ihresgleichen sucht. Vor allem die vollberuflichen Ultraprolls aus der
Schweiz waren mit ihrer DJ Bobo-Idiotie kaum zu überbieten,
aber auch der Rest der Affenbande ließ kaum eine Gelegenheit
aus, um uns auf den Wecker zu fallen. Statt die geniale Landschaft zu
genießen donnerte die Gruppe im Schweinsgalopp den Abhang
runter und ließ sich dabei auch noch von den coolen
Checker-Guides anfeuern. Die gefährlichste Straße
der Welt ist tatsächlich nicht ganz ohne, auch wenn es mit
einem Fahrrad wesentlich undramatischer erscheint als in einem Auto.
Die Straße ist vielmehr eine Schotterpiste, die nicht gerade
breit, in irrsinnigen Windungen entlang klaffender Schluchten
schlängelt. Die zahlreichen Kreuze am Wegesrand
könnten schon fast als Geländer durchgehen, so viele
Karren samt Besatzung sind hier schon in die Tiefe gerauscht. Deswegen
hatte die Regierung auch irgendwann Erbarmen und ließ eine
Umgehungsstraße bauen, die seit wenigen Jahren in Betrieb ist
und welche die alte Todespiste nun fast ausschließlich
für den touristischen Verkehr frei hält. Ein cleverer
Schritt, denn mittlerweile donnern hier täglich
Touristengruppen herab, die natürlich allesamt brav
Eintrittsgebühren berappen. Aber wie gesagt, der
Scheiß rockt und die Landschaft ist wirklich saugeil! Dass
die Landschaft „saugeil“ ist, lässt sich
in Bolivien so gut wie an jeder Ecke sagen. Ein ganz besonderes
Highlight stellt dennoch die Salzwüste bei Uyuni dar. Vonny
und Sascha konnten wir auch davon überzeugen, diese Fahrt in
den Süden des Landes anzutreten. Mit dem Zug ging es von Oruro
los hinein in die unwirkliche Landschaft des Altiplano. Mehr als
unwirklich war es dann auch um 23 Uhr nachts bei eisiger Kälte
aus dem Zug geworfen zu werden, nur um festzustellen, dass in Uyuni
schon seit mehreren Tagen Stromausfall herrschte. Eine ziemlich
surreale Situation in der jeder um sein Gepäck bangte und sich
Sorgen machte überhaupt noch ein Hostelzimmer zu finden. Wir
hatten natürlich clever vorgebaut und uns Zimmer reserviert.
Allerdings war es in der Dunkelheit alles andere als einfach das Hostel
zu finden, welches außerdem allen mürrischen
Passanten unbekannt war. Mürrisch waren dann auch die
Hostelbesitzer, denen ich – trotz Stromausfall und
stockdunkler Finsternis – eine halbe Kerze pro Zimmer fast
entreißen musste. Dass es selbstverständlich auch
kein warmes Wasser gab, nahm ich kommentarlos auf und verkroch mich
zügig in unserem Kabuff. Der nächste Tag gestaltete
sich freundlicher, da es uns gelang noch für den gleichen Tag
eine 3-tägige Tour, durch die anlegende Landschaft zu buchen.
Diesmal konnte uns auch keine miese Tourigruppe schrecken, da wir mit 4
Personen sowieso in der Mehrheit waren. Die vegane
Ernährungsweise sorgte trotzdem für Unverstaendnis
und Hilflosigkeit bei unserem etwa 60-jährigen Guide; einem
schweigsamen Haudegen, der sich als Fahrer, aber nicht als
Fremdenführer verstand. Uns war's egal, denn
schließlich war die Landschaft, die wir in den
nächsten Tagen zu Gesicht bekamen wirklich unfassbar. Ein
absolutes Highlight natürlich die endlos erscheinende, grell
weiße Fläche der Salzwüste, die sich wie
eine riesige Schneefläche bis zum Horizont erstreckt. Der
absolute Wahnsinn!! Der absolute Wahnsinn waren allerdings auch die
Temperaturen mit denen wir uns nachts herumschlagen mussten - ich
fühlte mich teilweise wie Reinhold Messner auf der Jagd nach
dem Yeti. Die Füße waren taub und ich brachte nur
noch gestammelte Worte hervor. Verdammt! Aber in der nächsten
Nacht, die wir auf einer noch höheren Lage, in einem ziemlich
mies isolierten Verschlag verbrachten, sollte das noch viel schlimmer
werden... die Temperatur sank auf erschreckende -17 Grad.
Ächz! Aber dafür entlohnte die Aussicht auf die
Laguna Colorada, einen See, der aufgrund von Mineralien und besonderen
Algen in einem bizarre und wirklich unglaublichen Farbspektrum
glitzert. Schon aus der Ferne konnten wir kaum glauben, dass der See
tief violett mit einem Hang zu rotbraun sich zwischen den grauen Bergen
ausstreckte – und dann stand da ja auch noch eine Kolonie an
Flamingos in den Fluten. Mir fehlen die Superlative! Der 3-Tages-Trip
war wirklich eine einzige Reizüberflutung: unglaubliche
Landschaften, nachts lähmende Kälte,
tagsüber knallende Sonne, dazu die dünne
Höhenluft (teilweise bewegten wir uns auf 5000 Metern), wenig
Schlaf, schreckliche Pisten und haufenweise Touristen, die sich das
ganze Programm eben auch reinziehen wollten. Wir kamen dementsprechend
geschlaucht und überwältigt in Uyuni an... und
leisteten uns nicht nur ein Hotel mit warmer Dusche, sondern auch noch
einen Ausflug in ein teureres, leider aber trotzdem schlechtes,
Restaurant. Das war so gut wie unsere letzte Amtshandlung in Bolivien,
denn am nächsten Tag traten wir – nach der
Verabschiedung von Vonny und Sascha - unsere fast 40-stündige
Rückreise nach Buenos Aires an, die uns noch einmal
über Villzón, dann aber schnurstracks in die
Hauptstadt Argentiniens führte.
Nach zwei Monaten in Bolivien fällt es mir durchaus schwer ein
Fazit zu ziehen, so vielfältig und unterschiedlich waren doch
all diese Eindrücke. Auf der einen Seite die wundervolle
Landschaft und die bezaubernde Tierwelt, auf der anderen die
durchgerockten Steißbeine und die entsetzlichen Busfahrten,
die Kilos an Staub, die wir fressen mussten und die Probleme, die wir
aufgrund unserer tierfreundlichen Ernährung hatten. Es ist ja
nicht so, dass ich es nicht gewöhnt sei anstrengend und unter
ordentlichen Entbehrungen zu reisen, doch oft musste ich mir
eingestehen: „Bolivien ist eine Herausforderung!“
Und das ist nicht nur in Hinblick auf die
Übernachtungsmöglichkeiten, das Essen oder die
Transporte zu sehen. So schön die wunderbaren Märkte,
die farbenfrohe Kleidung der indigenen Bevölkerung und die
lebendigen Traditionen auch waren, so sehr störte uns immer
wieder die ignorante und die abweisende Haltung vieler Bolivianer, die
uns das Gefühl vermittelten nicht erwünscht zu sein,
oder eben gerade nur noch gut genug dafür zu sein, um ein paar
Dollar abzutreten. Natürlich blickt Bolivien auf eine blutige
und traurige Geschichte zurück in welcher die Fremden immer
wieder die Bedrohung waren oder sich an den Reichtümern des
Landes gütlich taten. Dass nicht nur die Skepsis
gegenüber Ausländern, sondern auch ein besonderes
Geschichtsbild in der Sichtweise der Bolivianer tatsächlich
präsent ist, wurde uns immer wieder deutlich, wenn
über das Nachbarland Chile gesprochen wurde. Zahlreiche
Bolivianer berichteten uns von Zorn und Hass erfüllt, dass das
mächtige Nachbarland Bolivien den Zugang zum Meer geraubt
habe. Dass der so genannte Salpeterkrieg, auf den sich die
Gesprächspartner bezogen , bereits zwischen den Jahren 1879
und 1883 ausgefochten wurde, spielte in den wütenden
Kommentaren überhaupt keine Rolle mehr, obwohl es doch recht
fragwürdig erscheint, wenn man sich nur einmal vorstellt man
würde alle von den Kriegen der letzten 100 Jahre verwischten
Grenzen wieder an ihrem
„ursprünglichen“ Verlauf ziehen. An diesem
Beispiel wird einigermaßen deutlich, wie mit Erinnerung und
Vergangenheit umgegangen wird und was daran problematisch ist.
Einerseits ist dieses „Nicht-Vergessen“ bzw.
„Bewahren“ durchaus positiv zu bewerten, ist es
doch die Möglichkeit zur Erhaltung von Traditionen und
bestimmten Werten, die in der sich ausdehnenden kapitalistischen
Lebensweise dem Untergang geweiht zu sein scheinen. Andererseits
verstellt es wohl aber auch den Blick auf die sich rasend schnell
ändernde Welt und die neuen Herausforderungen, die sich aus
diesem permanenten Wandel ergeben. Nicht nur die Bolivianer werden mit
diesem Spagat ihre Probleme haben, vor allem wir
„kosmopolitischen Touristen“, die wir dann auch
noch in einer globalisierten Szene zuhause sind, tun uns besonders
schwer damit auf tatsächlich
„konservative“ bzw.
„konservierende“ Personen zu treffen, die eben
nicht dem schnellen Wandel hinterher hecheln, und sich nicht an die
Anforderungen und Ansprüche eines globalen Tourismus
anzupassen versuchen. Wir wollen ja einerseits das so genannte
„ursprüngliche“ sehen und erleben, tun uns
dann aber schwer, wenn wir beim Zusammenprall der Kultur nur schwer mit
den auftretenden Problemen nur sehr schwer umgehen können.
Trotz dieser Einsicht muss ich sagen, dass mir der Austausch, gerade
auch über solche Gedanken und Themen in Bolivien eindeutig zu
kurz kam und mir die abweisende Haltung großer Teile der
Bevölkerung daher vielmehr instinktiv, als reflektiert und
begründet erschien.
Natürlich können jetzt all die Touristen auf den Plan
treten, die völlig andere Erfahrungen gesammelt haben und von
der Herzlichkeit der Bolivianer schwärmen... deswegen
möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass dies ein
völlig subjektiver Artikel ist, der lediglich meine ganz
persönlichen Erfahrungen und Ansichten wiederspiegelt. Punkt
aus!
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